
„Wie sich die Bilder gleichen — Es ist mir nahezu unheimlich, die Parallelen zu sehen: den Gleichklang unserer Seelen und die so stark ähnlich gelagerte „Szenerie“!“ So beginnt der Antwortbrief von Elisabeth an ihre Schwester Karin vom 6.4.1977.
Was mir in allen bisherigen Briefen auffällt, ist die große Offenheit und Ehrlichkeit zwischen den beiden Frauen. Sie erzählen und schreiben einander von ihren Entscheidungen und Auseinandersetzungen mit dem Leben im Außen genauso wie ihren innerlichsten Gedanken, Widersprüchen und Unsicherheiten.
Unsicher war übrigens auch ich während der letzten Monate, bis ich dann eine Entscheidung getroffen habe: Ich gehe beruflich neue Wege (mehr dazu hier: https://blog.seeseiten.at/52-silvia-geht-beruflich-neue-wege/) Daher hatte und habe ich den Kopf auch so voll, dass mein letzter Blogbeitrag schon eine ganze Weile her ist. Aber die Schwesternbriefe lassen mich nicht los …
Und während ich heute meine Entscheidungen selbstbestimmt treffe, war das für Frauen im Jahr 1977 noch lange nicht gut möglich. Die gläubige Elisabeth will sich Beistand vom Priester holen, aber dieser fordert sie auf, auf Selbstverwirklichung zu verzichten. Und ihr Arzt meint, dass der Wunsch nach Selbstverwirklichung sehr egoistisch sein kann.
Zudem sah es rechtlich so aus, dass „bis 1978 in Österreich alles in einer Ehe erworbene Vermögen im Zweifel vom Mann herrühre. Hatte die Frau ein Vermögen, so galt der Mann automatisch als Verwalter, wobei er die Zinsen für sich verbrauchen durfte, ohne darüber überhaupt Rechnung legen zu müssen.“ Außerdem wurde erst 1978 „vorgesehen, dass bei Auflösung der Ehe das während der Ehe erworbene, dem Gebrauch beider Ehegatten dienende Vermögen, die während der Ehe geschaffenen Ersparnisse und Wertanlagen zwischen den Ehegatten aufgeteilt werden.“
So werden weiterhin heimlich Briefe an die Schwester geschrieben, wenn „der Holde“ außer Haus ist.
6.4.1977
Mein geliebtes Schwesterchen!
Wie sich die Bilder gleichen — Es ist mir nahezu unheimlich, die Parallelen zu sehen: den Gleichklang unserer Seelen und die so stark ähnlich gelagerte „Szenerie“! Sind wir eigentlich eineiige Zwillinge? Da soll noch einmal einer kommen und sagen, daß Schicksal etwas Zufälliges ist! Wir selber sind unser Schicksal und wir gestalten, gebären unsere Situationen selbst -.
Ich räume ein: auch das Wetter könnte einigen Einfluß haben, denn daß es so zu gleicher Zeit kriselt? Auch ich habe vor kurzem gesagt: Du liebst mich ja nicht, Du willst mich nur HABEN, besitzen, beherrschen, jede Minute meines Daseins mit Beschlag belegen, damit nur ja kein eigener Gedanke, kein selbständiger Wunsch Deiner Eifersucht in die Quere kommt!!!
Auch hier Hinauswürfe, Scheidungsandrohungen – allerdings keine Tätlichkeiten, weil mein Süßer seine Wut doch in etwa verbalisieren kann; vielleicht auch, weil ich etwas nachgiebiger (da nicht ganz so sicher) bin. Nachher ebenfalls die unausbleibliche Versöhnung (natürlich en lit).
Ich bin nicht sicher: Einmal hab ich gelitten unter den Explosionen, hab mich erschrocken geduckt und demütig gefügt. Eine Zeit hab ich mich hart und kalt gemacht, ich wollte mich nicht mehr demütigen und kränken lassen: Schrei zu, was geht dieser Fremde mich an? Auch das war falsch. Heute bin ich ruhig, aber nicht unbeteiligt, mitleidig abwägend, wieviel ich ihm zumuten kann – ja soll. Aber auch das ist nicht richtig. Liebe ist anders. Ich muß noch weit gehen –.
Mein Liebling, ich dank Dir für Deine lieben und offenen Zeilen. Es ist genau wie Du sagst: Wir haben einander gefunden, es bedarf nicht mehr so vieler Worte. Aber heute muß ich postwendend schreiben (und Gott sei Dank ist auch Gelegenheit dazu, mein Holder hat Theaterdienst). Erstens sollst Du wissen, jetzt und in der selben Sekunde, daß ich bei Dir bin. Und zweitens muß ich (kategorischer Imperativ!), muß Dir sagen alles was mir einfällt zu Deiner Situation. Wenngleich Du es wahrscheinlich selber weißt oder aber nicht akzeptieren kannst. Aber – das ist meine Aufgabe – das andere liegt bei Dir.
Ach Gott, wenn ich nicht die gleiche Sehnsucht hätte! Ich muß für andere da sein, es sind viele, die mich brauchen? Gott will das von mir, er hat mich so geschaffen, ich sündige an ihm und an mir, ich verfälsche mich, wenn ich nicht den Weg gehe, den er für mich bestimmt hat … Es ist mir ein ständig nagender Zwiespalt, daß mir mein Gemahl hier einen dicken Strich durch die Rechnung macht. Wie, wie soll ich leben können? Ist mir nicht die Luft abgeschnitten, wenn ich meiner Aufgabe nicht gerecht werden kann?
Ja, und hier habe ich zwei, die mir dawiderreden, den Priester und den Arzt. Jeder auf seine Weise. Der Priester: Ihre Aufgabe ist da, wo Sie stehen. Suchen Sie sie nicht woanders. Glauben Sie denn, Gott fände nicht einen anderen, das zu tun, wozu Sie glauben, beauftragt zu sein? Man kann genauso zur Vollendung gelangen, wenn man auf „Selbstverwirklichung“ verzichtet. Gott hat auch für diesen Fall einen Weg. Eine Parabel: Zwei Mönche brachen aus ihrer engen Zelle aus, um Gott zu finden. Sie liefen nach ihm über die ganze Erde. Am Ende der Welt standen sie endlich vor einer Tür und wußten, wenn sie hier eintreten, haben sie Gott gefunden. Sie öffneten – und standen in ihrer Zelle. Und da war Gott.
Der Arzt: Das Unbewußte ist sehr schlau, Mittel und Wege zu finden, um etwas zu erreichen, was ihm auf geradem Weg versagt wäre. Es verlegt den Wunsch nach außen und läßt ihn als Befehl zurückkommen, dem sich zu widersetzen „reiner Sakrileg“ wäre! Also: Gott will von mir … Ich bin geschaffen, zu … Ich darf nicht länger … In Wahrheit müßte es heißen: Ich empfinde meine Situation als beengend und will mich befreien. Ich will, nicht ich soll! Ferner sagt er: Der Wunsch nach Selbstverwirklichung, nach Vollkommenheit kann ein SEHR egoistischer Wunsch sein! In einer Ehe MÜSSEN beide Partner einige Abstriche machen, damit das Leben für beide tragbar ist. Im übrigen ist mit „vollkommenen“ Menschen sehr unangenehm zu leben. Sie nehmen sich selbst zu wichtig, doch beim wirklich vollkommenen Menschen ist der ANDERE der wichtigere. Er hat auch vollstes Mitleid mit meinem Mann. Eine Frau mit so einer „idealistischen“ Einstellung ist anscheinend eine Qual für den Partner. Sie erwartet (nicht „verlangt“) zu viel von dem armen Hascher. Kein Wunder, daß er ab und zu tobt! Ferner: Ehrlich zu sein ist nicht immer gut, barmherzig sein ist besser. – Nein, das hat er glaub ich nicht gesagt. Aber er hätte es ebensogut sagen können. Liebling, was hast Du davon, daß Dein Mann nun in Deinen Augen lesen kann, wie wenig er Dir geben kann?
Natürlich wollen unsere Männer UNS ändern. Sie sehen mit Angst, daß wir uns entfernen und wollen uns also wieder da hereinholen, wo wir waren. Wenn es gelänge, Ihre Angst zu nehmen, wären sie vielleicht fähig, uns Zugeständnisse zu machen. So aber fürchten sie bloß, uns vollends zu verlieren, und das läßt sie verzweifelt um sich schlagen. – Aber: Hand auf’s Herz: Gibt uns dieser „Ausschließlichkeitsanspruch“ nicht andrerseits doch auch ein Gefühl von Geborgenheit? So „geliebt und gebraucht“ (selbst unter Anführungszeichen) sind wir doch sonst nirgends. Und wer von denen, die uns zu brauchen scheinen, braucht uns wirklich?
Ich habe ein tiefes Mißtrauen in mir gegen mich selbst, da ich so gerne vom Guten rede und dabei versäume, es einfach zu tun. Da ich so heftig „in die Ferne“ liebe und es in meiner nächsten Umgebung an Liebe fehlen lasse.
Mein Schatz, ich danke Dir von Herzen für Deine lieben Wünsche und das Buch; und wieder beglückt mich der Gleichklang: ich hab mir selbiges Buch schon gekauft gehabt. Ich dank Dir sehr, und ich denke, ich schick Dir’s zurück. Vielleicht kannst Du’s umtauschen, oder jemandem schenken, der’s auch brauchen kann.
Busserln und liebe Grüße!
Deine Elisabeth
Quelle zum zeithistorischen Kontext:
https://www.bundeskanzleramt.gv.at/dam/jcr:664a2a18-fad3-4169-a209-fcfce27e8bbf/scheidungsratgeberin2017.pdf Seite 26









