Schwesternbriefe: An einer roten Kreuzung versuchte er, mich aus dem Auto zu stoßen

Vier eng beschriebene A4-Seiten, die es in sich haben. Der Ausspruch „über Gott und die Welt“ trifft hier voll zu. Vom Glauben an Gott, von Experimenten und Meditation, von Selbsterkenntnis bis hin zu Schlägen vom Ehemann und von noch viel mehr ist in diesem Brief aus dem April 1977 die Rede.

Ich glaube, ich habe fast zwei Stunden gebraucht, um den Brief abzutippen. Dabei kann ich gut und schnell schreiben. Eigentlich hatte ich vor, den Brief nur auszugsweise hier wiederzugeben. Aber dann habe ich mich doch entschlossen, den ganzen wirklich langen Text zu nehmen. Weil ich einerseits immer wieder von der Wortwahl beeindruckt bin. Andererseits wüsste ich nicht, was ich weglassen soll, um das Gesamtbild nicht zu verändern.

Und weil ich nun einmal ein Buchmensch bin und weil es so gut zu den Schwesternbriefen passt, in denen auch immer wieder von Liebe die Rede ist, möchte ich kurz das Buch erwähnen, das ich gerade lese: Love Letters, Virginia Woolf und Vita Sackville West. Hochinteressant, absolute Empfehlung meinerseits. https://seeseiten.buchkatalog.at/love-letters-9783293006010

Aber zurück zum Schwesternbrief: Da Karin ihrer Schwester über eheliche Gewalt berichtet, habe ich ein wenig recherchiert:

Auf der Seite „Frauen machen Geschichte – Geschichte der sozialdemokratischen Frauenbewegung“ steht unter Frauenpolitik in Österreich seit 1970, dass 1996 (!) das Bundesgesetz zum Schutz gegen Gewalt in der Familie beschlossen wurde, demzufolge der Täter und nicht das Opfer im Gewaltfall die Wohnung verlassen muss.

Laut Innenministerium trat dann 1997 dieses Gewaltschutzgesetz in Kraft. Auf der Seite des BMI ist dazu zu lesen: „Österreich war eines der ersten europäischen Länder, in dem der Schutz vor häuslicher Gewalt gesetzlich geregelt wurde.“

Das ist erst zwanzig Jahre nach diesem Brief von Karin an Elisabeth.


2.4.1977

Mein Liebling Elisabeth!

Hab Dank für Deine lieben Zeilen, die ich schon so lange unbeantwortet in meiner Tasche trage. Bin ich Dir zu wenig „postwendend“? Weißt Du, es fällt mir natürlich auf, daß Du jetzt länger auf meine Briefe wartest als früher, und auch ich warte länger als ehedem. Aber das heißt ja nur, daß wir das Wichtigste, das Grundlegende, das, was uns einander näher gebracht hat, einander vorgestellt hat, häufiger, dringender, wortreicher dargetan haben, nicht wahr? Denn nun, da wir, wie mir scheint, doch zuweilen richtig ineinander ruhen, ist auch der Briefwechsel weniger heftig und häufig. Findest Du doch auch normal, gelt? Ich möchte nicht, daß Du denkst, meine Begeisterung läßt nach. Aber es drängt mich nicht mehr so sehr, Dir alles, alles, von mir zu sagen. (Welch ein Unterfangen! Aber das war’s wohl in der Tat, was meinen Beginn so ungewöhnlich aufdringlich gestaltet haben muß – obgleich ich Dir nicht lästig war, ich weiß schon …) Nichtsdestotrotz will ich Dir aber auch nichts verschweigen, ich denke nur, Du kennst mich nun gut genug, vertraust mir hinreichend und magst mich entsprechend. – und das alles hab‘ ich mir eben erst erwerben müssen …! Komische Einleitung das. Und nur, weil mir auffällt, daß ich Dir seltener als zu Beginn unserer Liebe schreibe. Aber es ist nicht nötig, Dir irgendetwas zu erklären, Schwester, nicht wahr, Du hast Dir das selbst schon gedacht?!

Ich habe viel erlebt, mein Herzchen. Und das Wichtigste läßt sich nicht so einfach schreiben, was mir unendlich leid tut. Aber ich muß Dir davon immerhin soviel sagen, daß ich ein besonders seltsames Experiment bei Prof. Keyserling mitgemacht habe., bei dem Peter übrigens als „Versuchskaninchen“ fungierte. Und ich will Dir davon unbedingt erzählen, wenn Du (wann denn???) wieder einmal in Wien bist. Übrigens wäre, wenn wir klug genug vorgehen, durchaus möglich, daß wir mit Peter nochmals solch ein Experiment machen, da dieser den Hergang genau kennt und uns führen könnte. Die Frage ist nur, ob Du das möchtest, aber Du kannst ja auch nur zusehen, wie er’s mit mir macht. Und außerdem wirst Du ja sehen, daß es nichts Gefährliches dran gibt. Na, der Geheimniskrämerei genug. Um Dich einzuweihen bedürfte es jetzt mehrerer Seiten, damit Du mir glaubst. Aber wenn Du mich ansiehst, während ich zu Dir spreche, wird Dir nicht scheinen, daß ich Dir was vormache, also will ich mich auf meine und Deine Augen verlassen, – und jetzt wechsle ich das Thema. Noch was Wichtiges, als Ergebnis desselben Abends, wenngleich nicht unmittelbar mit dem erwähnten Experiment zusammenhängend, hat sich herausgestellt: Ich weiß, was ich will im Leben. Ich will, ganz einfach formuliert, die Freude der Menschen sein. Und siehst Du, mein Engelchen, da begab es sich, daß ich diese Erkenntnis vor etwa 15 Menschen laut aussprach, für mich selbst überraschend. Und ich habe damit nicht nur einen Vorsatz ausgesprochen, sondern ein ganz konkretes Gebot für meinen Lebensweg. Da ergibt sich aber immer wieder, sobald ich die Freude anderer Menschen sein will, daß ich eben darum nicht G.s Freude bin. Wenn es sich nun nur um die gewöhnliche Freude handeln würde, die man so nennt, weil sie Wohlbefinden verbreitet, hätte G. eindeutig Vorrang vor allen Menschen der Erde. Nun aber überlege bitte mit mir, geliebte, teuerste Elisabeth: Wenn ich „Freude“ sage, so meine ich, daß ich jedem Menschen seinen eigenen Wert zurückgeben will, weil ich imstande bin, ihn zu finden. Ich habe die Fähigkeit, das Beste im andern aufzuspüren, seinen guten Willen zu aktivieren u. ihm Mut zu sich selbst zu machen, welche Freude, wenn ich tüchtig bin, auf direktem Wege zu Gott führen muß. Keyserling nennt das, „die höchste Möglichkeit im andern, sein Inbild sehen“, und er sagt, man kann das nur aufgrund und mithilfe der Liebe. Entweder zu einem oder zu vielen, im Idealfall, in jenem Falle, da man gottgleich wird, zu allen Menschen. Nun ist mir keineswegs größenwahnsinnig zumute. Aber ich fühle mich irgendwo als Priester, und ich bin so froh, daß einen so gescheiten und anerkannten Menschen wie Keyserling gibt, der immer wieder, in jeder Vorlesung, eigentlich von mir spricht. Hauptsächlich von mir, oder von Menschen meiner Art. Er redet immer davon, wie einer sein muß, der zur Vollendung gelangen will. Und ich vergleiche seine Worte natürlich ununterbrochen mit mir, auch mit Peter, der, wie mir jetzt scheint, von den Menschen einer der besten ist, aber nichts weiß von seiner Potentialität, sich nicht als Partner Gottes versteht.

Dazu fragt er nämlich nach plausiblen Gründen in allem. Er muß begreifen können, muß analysieren, muß erklären und hundert Fragen beantworten, ehe er glauben kann. Ich aber trage in mir soviel Sicherheit, soviel Gottvertrauen, soviel WISSEN um Gott in mir, daß ich nichts zu fragen brauche. Oder sagen wir, ich unterscheide sehr deutlich zwischen plötzlichem Wohlgefühl, angenehmen Empfindungen und jenem Erleuchtetsein, das mich zugleich in höchstem Grade aufmerksam macht, wo ich nach innen gerichtet bin, tief einatme, horche, Gott aufnehme, wahrnehme in mir, ohne Erklärungen dafür zu haben, wo ich gleichzeitig so demütig werde, weil ich die Größe in mir anbete, die sich da eindrängt, machtvoll meldet, in mir wandelt … Und Peter fragt sich oder mich, wie ich ihm denn Gott beweisen will! Dabei sagt er, daß er sich nirgends so sicher fühlt wie in meiner Gesellschaft. Dabei sagt er, daß alle seine Unruhen und Wirrnisse sich in einem Gespräch mit mir in Kürze restlos klären, daß ich eine beruhigende, wärmende Wirkung auf ihn habe. Dabei sagt er, daß er meine Gegenwart spürt, daß von mir Wahrhaftigkeit und Reinheit ausgehen. Und wenn er das alles spürt, so muß ihm doch klar sein, daß das nicht nur von mir allein sein kann. Denn es ist das alles ja anders als bei sonstwem. Ich selbst habe mich eigentlich hauptsächlich um mich bemüht, nicht um Gott. Und nach meiner Meinung ist es eben dasselbe, ob wir uns um uns oder um Gott bemühen, wenn wir uns tatsächlich bemühen, denn wir bekommen Gott und uns selbst als Belohnung, denn wir sind alle Gotteskinder, nicht wahr? So klar, so logisch ist das. Und doch sträubst sich das Gros der Menschen, das zu akzeptieren. Weißt Du warum? Weil der Religionsunterricht ganz falsch aufgezogen wird, weil sich die Kinder schämen, von Gott zu sprechen, weil sie in unsauberem Verhältnis zu Gott und Glauben großgezogen werden. – Aber das gehört nicht hierher; noch nicht. Man sollte den Kindern von sich und ihnen erzählen, solange sie so winzig sind, denn wenn sie lernen, sich und andere zu verstehen und zu lieben, lieben sie Gott, selbst wenn sie nie seinen Namen gehört haben. Ich bin der Überzeugung, daß mich die Menschen brauchen. Um also zum Beginn dieser Ausführungen zu kommen, laß mich fortfahren, liebe Sister, Dir zu darzöhlen, daß es ebendas ist, was G., mein Gemahl, nicht glaubt, bzw. was ihn gegen mich und die andern aufbringt. Denn er will mich ganz allein, ausschließlich und vor allem ständig. Er kränkt sich fürchterlich, wenn ich das Haus verlasse, weil er sagt, ich gehe gern fort. Daß er gern zum Fußballtraining geht, leugnet er. Außerdem ist das was anderes, und er kann’s nicht erklären. Kunststück. Er spürt, daß es mich dorthin zieht, wo ich entweder neue Eindrücke in mich aufnehme, oder wo ich auf Menschen wirken kann, zu deren Freude im Sinne von freudigem Finden, im Sinne des Weges zu sich selbst. Ich möchte ständig aufnehmen und abgeben, aufnehmen und abgeben. Und daheim nehme ich nur auf, wenn ich mich mit einem guten Buch verkrümmle, was ja einem Absondern von der Familie gleichkommt, oder indem ich bewußt die Familie meditiere, diese drei Menschen in mich aufnehme, sie halte, das Besondere an jedem Einzelnen suche und liebevoll beobachte. Aber das kann selbst ich nicht dauernd. Na, und vor allem hilft das bei G. so wenig. Er nimmt nichts an von mir, hindert mich aber daran, mich andern Menschen, die mich brauchen oder die mich lehren, zuzuwenden, nur aus Selbstsucht. Denn er ist lediglich eifersüchtig, darin erschöpft sich auch schon seine Anteilnahme an mir. Er liebt mich nicht einmal wie er sollte und müßte, denn dann müßte ihm mein Fortschritt, mein Weg am Herzen liegen, müßte er für mich froh sein, wenn ich einen Kreis gefunden habe, der mich weiterbringt … Es ist aber so, daß er nichts tun, nur mich hindern will, von ihm fortzukommen. Verstehen kann ich’s, aber nicht billigen. Denn meine Aufgabe muß meinen Fähigkeiten, meiner Intention entsprechen. Und ich denke, ich kenne nun auch meine wahren Motive, also muß ich mein Leben allmählich demgemäß gestalten. Rücksicht nehme ich schon, aber wenn ich tu, wie G. am liebsten hätte, so müßte ich für sein Wohl und Wehe allein verantwortlich sein, müßte mich an ihn vergeuden und ihm das Erdendasein verschönern, außer welchem er kein anderes Dasein akzeptiert. Und dabei ginge ich doch zugrunde, müßte mich selbst verleugnen, könnte meinen echt vorhandenen Anlagen und Anliegen nicht verwirklichen, wäre vergeudet an G. Und was wäre eine Sünde wider mich – und, wie wir jetzt wissen, wider Gott, der mir meine Anlagen verliehen hat und der fordert, daß ich dementsprechend lebe, um mich zu verwirklichen, zum Wohle der Menschen, die Hilfe brauchen, um weiterzukommen. G. kommt nicht weiter. Er negiert jede Möglichkeit dazu, und er verdirbt sich damit selbst seine Möglichkeit. Ich harre aus, aber ich weiß nicht, ob das richtig ist. Die Kinder brauchen mich wohl. Aber es ist in ihnen der Grundstock gelegt, brauchen mich vor allem für Gespräche, immer weniger als Amme. Und so bin ich nicht sicher, ob ich mich nicht doch irgendwann absentieren werde von den Dreien. Das hat nichts mit Peter zu tun, Lieschen, aber mein Bewegungsradius ist derart eingeengt, da ich schuldig werde, wenn ich untätig zusehe, wie ich mich auf die Drei ausrede und nichts von dem tue, was ich für richtig und wichtig und wertvoll halte und wonach es mich drängt. Ich „schlafe“, damit G. ruhig wird, damit er keinen Herzkollaps kriegt. Ist das recht? Damit Du nicht denkst, ich übertreibe hier, muß ich Dir etwa erzählen, daß G. mich vor zwei Wochen, als ich abends um 11 h bei Keyserlings wegging, wo ich Renaissancemusik gehört hatte und ein angenehmes Gespräch mit einem Franzosen, der die Flöte blies, gehabt hatte, zwar vereinbarungsgemäß, aber wutschnaubend abholte. Er äußerte zuerst, ich wäre in schlechter Gesellschaft gewesen, denn „die“ wären „sicher alle Rauschgiftsüchtige, die er dort ’rauskommen sah.“ (Dies äußerte er, weil zwei junge Burschen lange Haare trugen, sich aber normal aufführten.) Außerdem bin ich alte Gaaaß dort fehl am Platz, er hatte zufällig vier junge Leute das Kriterion verlassen sehen. U.s.w. Jedenfalls steigerte sich G. in unglaubliche Wut. An einer roten Kreuzung versuchte er, mich aus dem Auto zu stoßen, machte die Tür auf meiner Seite auf und war fürchterlich grob. Ich ließ mich nicht „verstoßen“, weil ich wußte, er würde es bereuen, und ich hielt mich fest. Er beschimpfte mich die ganze Fahrt über. Daheim vor der Haustür schlug er mich den Weg zu meinem Auto entlang, unter Flüchen schickte er mich fort, zurück zu den „Süchtigen“, oder sonstwohin! Von seinen Ohrfeigen bemerkte ich nichts, die waren zu stark, da sah ich nur plötzlich Sterne, woraus ich unschwer auf die diesen vorangegangenen „Explosion“ schließen konnte. Aber es ist bemerkenswert, daß ich bei alledem nur sah, wie außer sich er war. Nicht meine Unannehmlichkeiten und Schmerzen, nicht das, was mir widerfuhr, stand im Vordergrund, sondern G.s Verzweiflung. Und ich sah, daß er ohnmächtig war, und ich sagte ihm, daß es nicht recht wäre, so zu handeln, daß ich ihn aber verstünde und deshalb auch völlig egal sei, ob er nochmals zuschlüge oder nicht. Ich weigerte mich, ins Auto zu steigen und fortzufahren, nicht, weil ich nicht wüßte, wohin, nicht, weil ich nicht wollte, sondern weil er und die Kinder mich hier und nicht woanders bräuchten. So ließ er mich schließlich doch ins Haus, und ich schrieb sogar noch einen Brief um Gehaltserhöhung an seine Firma, der für diesen Tag geplant gewesen war. Er sagte zwar, er könne das selbst, aber ich verneinte das und schrieb also. Am nächsten Morgen weinte er, bat mich um Verzeihung, und ich wiederholte ihm, daß ich ihn verstünde und setzte hinzu, daß ich ihn liebe, und daß es auch meine Meinung sei, daß das zur Scheidung nicht reicht, was ihn so kaputt macht. (Er hatte am Vorabend von Scheidung gesprochen, weil er „das nicht mehr aushalten könne“.) De facto reicht’s höchstens zu einer gütlichen Trennung, aber wie’s weitergeht, ist offen. Ich glaube, ich kann nicht einfach von Scheidung reden. Ich möchte am liebsten, falls sich derartige Vorfälle wiederholen, im Guten gehen, vielleicht nur vorübergehend, um nicht den Kindern irgendwelche Szenen zumuten zu müssen. Ich kann, glaube ich, nur gehen, wenn G. in Freundschaft mitwirkt. Das will ich bewirken. Denn was ich noch sah, war, daß G. überhaupt nicht interessiert ist an dem, was mich bewegt, daß er meine Andersartigkeit nicht akzeptieren kann, daß er von meinem Weg nichts wissen will. Und er will nicht bei sich, sondern bei mir was dagegen tun. Was kann er tun? Hinhauen. Wissend, daß das nichts fruchtet. Ich habe ihm gesagt, daß er damit nur erreichen kann, daß ich ihn verachte. Da hat er aufgehört. Er weiß, daß das nicht richtig oder wirksam ist und tut’s dennoch. Und das macht ihn kaputt. Wieder nur ihn, nicht mich. Er sagt, er kann mein „ewiges Fortgehen“ nicht mehr aushalten. Aber es ist schon oft vorgekommen, daß ich, nur um meinen guten Willen zu zeigen, daheim geblieben bin, ihm zuliebe. Was wußten wir denn miteinander anzufangen? Jetzt brauchen wir einander nur anzusehen und jeder weiß, daß er den anderen nicht unterhalten kann. Denn in den Augen haben wir endlich beide keine Lügen. Es ist aber wahr, daß wir einander schätzen und mögen, weshalb wir wohl noch beisammen sind. Aber ich schätze und mag recht viele Leute, das reicht als Basis nicht für eine Gemeinschaft, wenn sie nicht schon eine ist, seit Jahren. So stehen die Dinge mit uns, und ich weiß Dir, liebe Elisabeth für die Zukunft keine Versicherung, daß das noch lange hält. Aber solange ich hier bin, fülle ich meinen Platz aus so gut ich kann: Ich habe z.B. letzte Woche wie eh und je mit ihm betoniert, heute Pflanzen gesetzt usw., usw. …

Was mich aber bei aller Unerfreulichkeit jubeln gemacht hat, war dies: Keyserling predigt, wir sollen uns nicht vom Körper abhängig machen. Und im Idealfall ihn ignorieren können auf solche Weise, daß er unsere Entscheidung nicht beeinflußt. Der Geist soll Herr über den Körper bleiben. Er sagt dann Beispiele, an denen wir erproben oder messen können. Es war mir theoretisch immer klar, was er meint. Aber ich hatte nicht Gelegenheit, oder fand keine solche, um in der Praxis zu erproben, ob seine Worte auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Und da, als G. mich schlug, erlebte ich Körper und Geist völlig getrennt. Und was ich sagte, tat und dachte, hing mit den Schlägen nicht eigentlich zusammen. Das war DIE Überraschung des Abends! Und das hat mich eigentlich (fast möchte man sagen „widersinnigerweise“) glücklich gemacht.  Und zwei Tage später fand sich noch solch eine Probemöglichkeit: Peter der Große, der Zurückhaltende, hatte plötzlich nach der Vorlesung überraschend meinen Kopf in seinen Händen und küßte mich. Und, Elisabeth, jetzt kommt’s: Zwar ließ ich seine Zunge ein, erwiderte seinen Kuß aber nicht, überließ mich ihm kein bißchen, meine Zunge rührte sich nicht, und ich versuchte auch, mich loszumachen. Es war zum erstenmal passiert, daß Peter meinen Widerstand ignorierte, d.h. auf meine Reaktion nicht achtete, wie das sonst unbedingt seine Art ist. Und in mir war es so mucksmäuschenstill, als wollte ich mich vor der blinden Zunge in mir verstecken. Ich hatte hier ebenfalls Gefühl und Verstand getrennt, fein säuberlich Körper und Geist unterschieden. Mein Körper ist vielleicht nicht so ganz „immun“, zumindest noch nicht, denn nachher, als ich schon daheim war, da suchte meine Zunge am Lippenrand nach seinen Spuren, da wütete mein Körper wider mich, die ich ihm einen Traum zerstört hatte, da sehnte sich das, was man an mir sieht, nach ihm. Mein Geist aber triumphierte, nun bewußter, sicherer, klar und stolz, zum zweitenmal Herr über mich! Peter interpretierte das zuerst anders, denn er hatte mir von seinen Erlebnissen im Zusammenhang mit peak experiances erzählt, auch von seinen Gipfelerfahrungen im Zusammensein mit Frauen, und dachte, ich wäre „posthum“ eifersüchtig. Seinen Kuß rechtfertigte er in keiner Weise, er, der mir doch die Vergeistigung ans Herz gelegt hatte! Aber er verstand auch was ich ihm erzählte, war nicht verletzt, sagte aber nichts dazu. Ob er am „Umdenken“ ist? Na, derzeit fühle ich mich stark genug. Als ich schwach war, hatte er die Kraft, jetzt hab’ ich sie, auch das reicht für beide.

Ich bin sehr glücklich bei alledem, Elisabeth. Ich bin mit mir selbst so im Einklang, habe keine Fragen, fühle mich in Gottes Hand und vertraue darauf, daß alles so sein wird, wie es sein soll. Bevor G. an mir zerbricht, wird vielleicht doch eineTrennung nötig werden. Falls er umdenken kann, wird nichts nötig, dann öffne ich mein Haus immer weiter, denn ich möchte, ich muß Menschen um mich haben, die meine Hilfe wollen, brauchen können.

Von meinem Job sollte ich Dir noch erzählen: Ich bin zwar für KO in Engl., Französisch und Italienisch engagiert worden, aber nur für’s Diktat in den 3 Sprachen, nicht für eigeständige KO. Allerdings gibt’s einen Dr. K. dort, der mir dessenungeachtet deutsche Briefe hinlegt, die ich ins Englische übersetzen soll. Ich habe das 2x gemacht, der dritte war sehr lang und auch schwer, da hab‘ ich ihn heimgenommen und über Nacht übersetzt. Es war das schönste Englisch meines Lebens, das mühsamste auch, – aber es war nix. Seither hatte ich nichts mehr zu übersetzen. Schreiben kann ich schon, das ist ja weniger schwierig. Ich übersetze mir daheim nur die mitgebrachten Durchschläge, damit ich wenigstens daraus was lerne. Aber immerhin, mir konveniert’s, und gut bezahlt ist’s auch. Die Leute sind nett und intelligent, ich denke, ich hab’s gut getroffen.

Deine Zerstreutheit übrigens kenne ich auch von mir, Lischen. Ich stelle nur fest, daß ich z.B. gleich darüber lache und die Sache vergesse, während Du solche Vorfälle zum Anlaß nimmst, um an Dir zu zweifeln. Wenn Du später drüber wirst lachen können oder kannst Dir das jedenfalls vorstellen, so lach doch bitte gleich! Dann war’s nicht lebensgefährlich. Und vielleicht wird’s allein dadurch besser! Dein Hänschen laß mir vielleicht nochmals schön grüßen, Elisabeth. Oder jedenfalls sollst Du wissen, daß ich mich gefreut habe über seine Worte, die zeigten, daß er mir noch gewogen ist, was mich natürlich hoch beglückt. Es kommt mir nämlich schon auch auf seine Meinung an, selbst wenn diese nach dem Mond wechselt.

Und auch ich geh jetzt schlafen, Herzchen. Zuerst wünsch ich Dir einen angenehmen, wunderschönen Geburtstag, Liebling. Dazu ein Buch, das ich mit dem schlichten Prädikat „besonders wertvoll“ versehen möchte, nicht, weil’s ein Geschenk von mir ist, sondern weil’s wahr ist. … Alles, alles Liebe u. Gute!

(Tilmann: „Die Führung zur Meditation“)


Quellen zum zeithistorischen Kontext:
https://www.bmi.gv.at/magazin/2022_07_08/15_Gewaltschutzgesetz.aspx
https://frauenmachengeschichte.at/frauenpolitik-in-oesterreich-seit-1970/

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