
Dieser Weihnachtsbrief von Karin an Elisabeth ist recht lang. Dünnes Durchschlagpapier, eng bedruckt auf der Vorder- und Rückseite, getippt auf einer mechanischen Schreibmaschine. Neben der anschaulichen Schilderung von Ärger mit den anderen beiden Schwestern ist u.a. auch einiges an Zeitgeist in Sachen Mode darin enthalten.
Wenn ich mir Modebilder aus der Zeit anschaue, so fällt mir auf, dass die Frauen damals oft auch zu Sommerkleidern Handschuhe trugen. Die Kleider waren tailliert, der Petticoat kam gerade aus der Mode. Erst ab Ende der 1960er-Jahre waren Frauenhosen gesellschaftlich halbwegs akzeptabel. Als „anständige“ Bekleidung wurden sie aber noch lange nicht gesehen. Ich kann mich nicht erinnern, in meiner Kindheit in den 1970er-Jahren Frauen in Hosen gesehen zu haben.
Man ging ins Kino, um Filme von Heinz Rühmann zu sehen, wie Karin in ihrem Brief erwähnt. Aus dem Jahr 1960 ist aber auch z.B. der Film „Im weißen Rössl“ mit Waltraud Haas und Peter Alexander, die Uraufführung war am 21. Dezember 1960.

Fernsehen gab es zwar schon, aber der regelmäßige Fernsehbetrieb wurde in Österreich im Jahr 1958 aufgenommen und erst im Laufe der 1960er Jahre entwickelte sich das Fernsehen zu einem Massenmedium.
Elfi und Heidi, von denen hier die Rede ist, sind die mittleren Schwestern in der Familie. Elisabeth war die Älteste, Karin ist die Jüngste. Es gab auch noch einen Bruder.
Wien, am 27. Dez. 1960
Liebes Lischen!
Ich hoffe, daß es Euch gut geht, daß Ihr die Feiertage gut hinter Euch gebracht habt, daß Ihr gesund seid und daß das Christkind recht brav war und daß es viel gebracht hat und daß … etc.)
Danke für das Christkindl, ich möchte das etwas näher erläutern: Die Kokosnuß heißt Holzkopf, die Giraffe heißt neugierig und hochhinaus, das Briefpapier heiß schreibfaul. Summasummarum: „Du bist ein neugieriger (hochhinauser), schreibfauler Holzkopf!“ Danke bestens. Soviel Lob und Komplimente kann ich auf einmal nicht gut vertragen.
Ich muß mich noch entschuldigen bei Dir, ich hab die morgenländische Weisheit so quasi als Ausweg gekauft. Ich hab Dir die östliche Weisheit kaufen wollen, aber Hans hat das für Dich ausgewählt und da wollt ich ihm den Vortritt lassen. Das Büchlein hab ich mir selbst behalten und Dir eben das andere gekauft, was ein banaler Abglanz des anderen ist. Es tut mir sehr leid, das war wieder einmal ein Geistesblitz.
Bei mir war das Christkind auch sehr brav. Von der Elfi hab ich allerdings ein kleines Fläschchen Eau de Cologne bekommen. Das klingt undankbar, ich weiß, aber ich weiß ebenso gut, daß die Elfi, wenn sie wirklich Freude machen will, mehr schenkt. Sie wollte mich aller Wahrscheinlichkeit nach nur „stessen“, weil sie sicher nicht erwartete, von mir etwas zu kriegen. Also wollte sie mir keine Freude machen, zumindest keine allzugroße und die war auch wirklich dahin. Na, ja.
Vom Günther hab‘ ich viel gekriegt. Einen Ring und einen Schirm und ein schönes Buch von Fritz Moravec und Handschuhe (weißes Leder für meine hellen Schuhe, Du kennst sie ja eh, ich hab sie mir im Sommer gekauft) und was weiß ich noch alles. Er verwöhnt mich fürchterlich. Von den Eltern hab‘ ich Handschuhe (für’s Geschäft, warme) und eine Wäschegarnitur und eine warme Hose (!) gekriegt, einen Pyjama auch, nur weiß ich nicht genau, von wem. Von der Tante wahrscheinlich. Vielleicht ist auch die warme Hose von ihr. Ich weiß das eigentlich nicht so genau. Von der Heidi hab ich einen wunderschönen BH und dazu einen ebenso entzückenden Strumpfbandgürtel aus Perlon mit Spitze gekriegt. Das ist soooooo hübsch. Im Augenblick weiß ich wirklich nicht mehr, was ich noch alles gekriegt hab‘. Aber das Christkind war bei mir über die Gebühr brav und gebefreudig.
Die Heidi hat mich schon wieder so geärgert. Sie macht die größten und wahnwitzigsten Geschenke und dreht dann ihre Gespräche so, daß ich dasteh, als hätte ich überhaupt nichts geben wollen. Sie hat zum Beispiel den Eltern einen Plattenspieler gekauft und ich war grad dabei, wie sie mit der Tante darüber gesprochen hat und sie umständlich beschwörte, am hl. Abend von diesem Plattenspieler entzückt zu sein, damit die Eltern nicht so schimpfen sollten. Die Tante hat dann im Verlaufe des Gespräches gesagt: „Du bist ja so unvernünftig, Du gibst soviel Geld aus, schau, die Karin ist da viel vernünftiger, die verausgabt sich nicht so (wobei ich nur erwähnen möchte, daß ich mich ja verausgabt hab, und wenn ich den Günther nicht angepumpt hätte, hätt ich weiß ich was tun können, um zu einer Wochenkarte zu kommen. Mutti hat mir das Geld nicht gegeben, weil ich ihr noch eine Putzerei meines grauen Rockes schuldig war.)“ also die Tante fand mich vernünftig, weil ich – infolge Geldmangels allerdings – nicht viel geschenkt hab‘. Und die gute Heidi antwortet frisch und fröhlich „Na, ja, die Karin schenkt dem Vati a Paar Socken und weiter nix.“ Dann hat sie verbindlich gelächelt und gesagt: „Naja, ich weiß ja, Du hast nicht soviel Geld.“ Und das sagte sie nur, weil ich mich natürlich gewehrt hab und gesagt hab, daß ich mit meinen 400,- S keine großen Sprünge machen kann und doch nicht um 3.000,- einen Plattenspieler kaufen werde. Dann hat die bescheidene noch gemeint, d.h. sie hat die Tante gefragt, ob man nicht sagen könnte, daß der Plattenspieler von uns allen gekauft worden sei und daß Tante, Gerhard und ich auch mitgezahlt hätten, damit die Eltern nicht dächten, sie gäbe soviel Geld aus. Sie hat genau das erwartet, was die Tante gesagt hat und auch ich hab gewußt, was die Tante darauf antworten würde. Nämlich: „Du Gutes, Du zahlst ihn ganz allein und willst uns auch noch mit deinen Federn schmücken!“ Gerührt drückte die Tante ihr Heidilein an den Busen und ich hätte ihr am liebsten eine reinhauen wollen. Nein, weißt Du, Lischen, ich bin sicher eifersüchtig, weil sie überall so gelobt und bevorzugt wird. Aber wenn sie’s verdienen würde, ließe ich mir das einreden. Aber mit ihrer wirklich blöden und falschen Augenauswischerei fang ich schön langsam an, sie wieder zu verabscheuen. Sie hat übrigens den Plattenspieler eh nur für sich gekauft und sie spielt auch den ganzen Tag ihre Platten und einmal unter 50 kommt dann vielleicht die Platte von den Eltern. Sie hätt sich ihn genausogut selbst kaufen können. Zu Silvester wird sie ja auch wieder die ganze Nacht ihre Platten spielen und ich bin sicher, daß sie sich ihn wegen Silvester gekauft hat. Und überhaupt zu den Parties, die sie ja am laufenden Band veranstaltet. Mit den Käsebrettern war’s ja auch dasselbe: Sie hat eine Käsepartie gemacht, groß aufgezogen und dann hat sie die Bretter den Eltern zum Hochzeitstag geschenkt. Und ich hab ihnen nichts, garnichts geschenkt. Wie doch dagegen die Heidi an alles denkt!!! Und wie sie gern gibt, allen gibt.
Unlängst hab ich mich so gekränkt. (Die Tante treibt ja ihren Heidi-Kult am Ärgsten.) Ich hab Weihnachtssachen eingepackt und eben überlegt, mit welchem Papier ich was einpacken soll. Da ist die Tante ins Zimmer gekommen und ich hab so nachdenklich geschaut und die gute hat gefragt: „Was schaust Du so mißtrauisch, führst Du Böses im Schild?“ Ich hätt sie am liebsten rausgeworfen. Weißt Du, alles an mir ist halt so ganz böse und entsetzlich. Gestern beim Mittagessen wurde plötzlich erläutert, daß die Heide soooo liebt ist, sie lacht immer so lieb und froh und herzlich. Ich hab mit den anderen gelächelt, der Höflichkeit halber und schon stellte die Tante fest, daß mein Lächeln dagegen eine Grimasse sei. Möglich, daß sie es war, aber natürlich ist sie das immer. Ich lache eben nicht so froh, wie ein guter Mensch, mein Lachen ist natürlich immer böse. Ich weiß nicht mehr, wie ich ihnen beikommen soll, daß sie mich wenigstens in Ruhe lassen. Wenn ich meine Ruh haben will, dann schleich ich natürlich umehr, als hätte ich ein schlechtes Gewissen und wenn ich mich an der Unterhaltung beteilige, dann bin ich ein frecher Schnabel, der „auch schon reden“ will. Ich schmier mich halt immer an, als wollte ich etwas verstecken oder vertuschen, etwas schöner machen, als es ist. Daß ich das Schminken wirklich von der Heidi hab und daß ich nie mehr angestrichen bin als sie, das ist natürlich geistige Fatamorgana. Ich möchte nix als weg. Ich bin schon froh, wenn ich meine eigene Wohnung hab‘ und mich um nichts anderes als um mich selbst und meinen eigenen vier Wände kümmern muß. Und nicht die Sorge hab‘, wie könnt ich eventuell neben der Halbgöttin Heide wenigstens halbwegs bestehen. Oder zumindest eine winzige Existenzgrundlage neben ihr schaffen. Ich will fort. Günther und ich werden sicher heiraten, ich wünsch mir schon nichts sehnlicher mehr. Oh nein, nicht wegen daheim. Bitte glaub mir, ich hab wirklich zu ihm gefunden. Ich mein, ich hab seine Fehler in Kauf genommen und seine Vorteile anerkannt. Ich werd‘ sicher glücklich werden. Na, ja davon reden wir später. Wenn Du mir schreibst, dann erwähn‘ bitte nichts davon. Du weißt ja, wie das ist.
Gestern waren alle (Vati, Mutti, Tante, Heidi und Günther – ich natürlich auch – im Kino. „Der brave Soldat Schwejk“ mit Heinz Rühmann. Es war süß. Heinz Rühmann als staatlich anerkannter Idiot. Er hat ihn entzückend gespielt.
Wie geht’s Euch sonst? Mir geht’s halt ganz gut. Was will man? Ich muß aufhören, es gibt wieder eine Menge Arbeit.
Bis auf Weiteres alles Liebe und tausend Bussi von Deinem
Taddäus Tatzentupf!
P.S.: Ich hätt fast vergessen, zum Neuen Jahr auch alles, alles Gute, Liebe und Schöne zu wünschen. Viel Glück und Erfolg! Bussi!
Karin hat diesen Brief an Elisabeth im Jahr 1960 geschrieben, also zehn Jahre bevor es mich überhaupt gab auf dieser Welt. Wir haben uns viele Jahrzehnte nicht gekannt. Dennoch tauchen an den ungewöhnlichsten Stellen Parallelen auf: Erst im vergangenen Sommer habe ich „Der brave Soldat Schwejk“ im Sommertheater in Mödling gesehen. (Es gibt heuer eine Wiederaufnahme des Stücks: https://theater-moedling.at/stueck)
Da mir der Name Taddäus Tatzentupf nichts sagte, habe ich gegoogelt: Er stammt aus dem Tiermärchen „Die neue Wohnung“, dessen Kernaussage es ist, sich Dinge einmal von der anderen Seite anzusehen, um sie schätzen zu können. (Zum Nachlesen, ab Seite 12: https://lifedays-seite.de/buch16/page.pdf)
Weiter geht es dann beim nächsten Mal in den Siebzigerjahren. Der erste von circa 20 noch erhaltenen Briefen aus diesem Jahrzehnt ist von Elisabeth an Karin vom 20.9.1976.
Quellen zum zeithistorischen Kontext:
https://de.wikipedia.org/wiki/Im_weißen_Rössl_(1960)
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_des_Fernsehens_in_Österreich









