Schwesternbriefe: Wir schreiben das Jahr 1960

Ich habe mich nun doch entschieden, die richtigen Vornamen der beiden Schwestern zu nehmen. Sie heißen Elisabeth (aus ihr hatte ich ganz kurz Else gemacht) und Karin (nicht Mari). Damit keine Nuancen, Stimmungen oder gar Authentizität verloren gehen.

Die 1931 geborene Elisabeth war die Älteste von fünf Geschwistern, die 1944 geborene Karin die jüngste. Aus dem Jahr 1960 sind zwei Briefe der damals 16-jährigen Karin an Elisabeth erhalten.

Um die Briefe ein wenig in zeithistorischen Kontext zu setzen: Volljährig wurde man mit 21 Jahren. Erst am 1. Juli 1973 wurde in Österreich das Alter der Volljährigkeit (§ 21 ABGB) von 21 auf 19 Jahre per Gesetz herabgesetzt.

1960 war Dr. Adolf Schärf Bundespräsident und Julius Raab (ÖVP) Bundeskanzler. Der Staatsvertrag war erst fünf Jahre zuvor unterschrieben worden. Die Alliierten waren abgezogen, seit 26. Oktober 1955 durften keine fremden Truppen mehr auf österreichischem Hoheitsgebiet stehen. Zum Nationalfeiertag wurde der 26.10. aber erst 1965.

Mädchen im Teenager-Alter wurden Backfische genannt. Junge Leute besuchten die Tanzschule und gingen aus in Tanzcafés. Es war das Gründungsjahr der Beatles. 1960 hatte Udo Jürgens beim Festival in Knokke (Belgien) den ersten internationalen Kompositionserfolg mit „Jenny“. Erst 1966 gewann er im dritten Anlauf – nach 1964 und 1965 – mit „Merci Cherie“ den Grand Prix de l’Eurovision, also den Song Contest.


Karin hat am 27. Okt. 1960 den Brief in ihrer Mittagspause im Büro auf einer mechanischen Schreibmaschine getippt, ich habe ihn nun von dem dünnen Durchschlagspapier abgeschrieben:

Liebes, liebes Lieschen!

Ich bin wütend, Du nennst mich auf Schleichwegen allerdings, aber doch, Genie und ich bin nicht imstande, Dir folgendes in treffender Versform beizubringen:
Ich meine, ich weise natürlich Deine Komplimente zurück und finde mich gar nicht großartig, aber das mein‘ ich ja nicht wirklich ganz so. Ich meine, ich bin schon ganz gut …
Ich mach mich also etwas lächerlich vor mir selbst. Aber Wilhelm Busch hat das können, ich kann’s nicht. Ich bin ein verhindertes Naturtalent. Ich will sagen, daß Busch sich so lächerlich gemacht hat, daß alle ihn trotzdem noch sehr großartig gefunden haben. – Getreu seinem Satz: „Die Selbstkritik hat viel für sich … so kommt es schließlich doch heraus, daß ich ein ganz famoses Haus.“

Also das kann ich nicht, dazu muß ich mich plumper, direkter Worte bedienen. Oh, welche Schmach … Du solltest mich nie mehr loben.

Also was ich mit dem Licht gemeint hab.
Ich hab nirgends was ähnliches gelesen, d.h. ich hab‘ sicher davon gehört. Nur hab‘ ich mir da so komische Gedanken gemacht. Ich bin auf der Floridsdorferbrücke mit Günther spazieren gegangen und da war es schon fast finster und die Brücken links und rechts grau in grau gelegen und da hab ich plötzlich empfunden, daß das Leben schön ist und ich hab‘ zum Günther gesagt, daß einer, der da Selbstmord verüben wollte, es nicht fertigbringen würde, daß er fühlen würde, daß die Welt schön und so reichhaltig ist und ich weiß nicht, was noch alles. Aber Günther hat nichts für derlei Dinge übrig. Er hat ja, ja gesagt und ich hab‘ gemerkt, daß er das nicht einmal hören will, was ich meine. Das, was ihn aufgeweckt hat, aus seinem „Schlaf“ war, daß ich von einem sicherlich verhinderten Selbstmord sprach. Da hat er auf einmal gesagt, ich soll aufhören, überhaupt an Selbstmord zu denken. Er hält mich anscheinend für eine so sensible Natur, daß er befürchtet, wenn ich an Selbstmord denke, meine ich mich. Das war alles, was ich aus ihm herausgeholt habe. Na, und ich weiß nicht. Ich bin dann jedesmal unglücklich, wenn er so weit weg ist und da hab ich in meinem Unglück dann gegrübelt. Und dann ist mir das von dem Licht halt eingefallen, weil ich halt schon beim Philosophieren war.

Es ist ja auch so. Ich bin momentan nicht in der Lage an Philosophie ernst zu denken, ich bin im Büro und jetzt muß ich meine Mittagspause, die ich mangels vieler Arbeit so sehr ausgedehnt habe, doch beenden. Servus. Ich werde Dir wieder schreiben und wenn ich was zusammengebraut habe, dann werde ich Dir’s schicken.


Mich würde ja brennend interessieren, was Karin da genau mit dem Licht beim Philosophieren eingefallen ist, dass ihre Schwester sie sogar Genie nennt dafür …

Der nächste Brief ist ganz anders, er ist vom 27. Dezember 1960, ebenfalls von Karin und erzählt u.a. von Weihnachtsgeschenken und Schwesternzwist.


Quellen zum zeithistorischen Kontext: https://www.oesterreich.gv.at/themen/transparenz_und_partizipation_in_der_demokratie/demokratie-und-wahlen/demokratie/4/Seite.22300023.html

https://www.bundeskanzleramt.gv.at/bundeskanzleramt/geschichte/regierungen-seit-1945.html

https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Udo_Jürgens

https://www.eurovision.de/geschichte/1966-Grand-Prix-Eurovision-de-la-Chanson-Europeenne-in-Luxemburg,luxemburg113.html

4 Gedanken zu “Schwesternbriefe: Wir schreiben das Jahr 1960

  1. Find ich gut, dass du die echten Namen genommen hast!
    Schade, dass einem ein bisschen der Kontext fehlt bzw. dass Elisabeth dann nicht auf Karins Brief geantwortet hat. Aber beim folgenden regelmäßigen Briefverkehr wird man dann schon reinkommen und sich besser auskennen.
    War Günter ihr Freund (durfte sie überhaupt schon einen haben)?

    liebe Grüße, Bettina

    • Danke für die Rückmeldung, liebe Bettina. Die echten Namen fühlen sich besser an und Karin war sowieso damit einverstanden, die richtigen Namen zu verwenden.

      Ja, Günther war Karins (älterer) Freund und ihre Mutter hat das sogar forciert. Da bin ich auch schon sehr gespannt, was in den Briefen noch alles rauskommt. Einiges hat sie mir ja erzählt, dadurch habe ich natürlich einen „Informationsvorsprung“.

      Ansonsten nehme ich auch an, dass der Kontext sich im Laufe der Briefe erschließt. Und wenn nicht, werde ich ergänzend eingreifen.

      Alles Liebe, Silvia

  2. Liebe Silvia,

    ein Anfang – ein würdiger – ist gemacht 😊 Sehr erfrischend fand ich, dass du die historischen Details knackig kurz erwähnt hast, es löst ja ohnehin den Ah-ja-Effekt aus. Das ist genau richtig, um sich zu verorten.

    Der Brief ist tatsächlich spannend, aber wie schon Kommentar Bettina – uij, schade, dass wir den vorangegangenen nicht lesen können – egal, wir dürfen auch selbst fantasieren 😊

    Mach bitte weiter 😊

    Ganz liebe Grüße Silvia

  3. Liebe Silvia,

    danke auch für dein schönes, für mich sehr wertvolles Feedback.

    Schade, dass sich das Programm ausspinnt mit den Sonderzeichen. Ich kann da aber meines Wissens nach nicht eingreifen, vielleicht hast du eine Möglichkeit, das von einem anderen Gerät aus zu korrigieren?

    Ganz liebe Grüße zurück, Silvia

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